Die Zuchtwertschätzung

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Der Zuchtwert eines Tieres gibt seinen genetischen Wert hinsichtlich eines bestimmten Merkmals an. In der Nutztierzucht seit Jahren weit verbreitet, kommt die Zuchtwertschätzung inzwischen auch in der Hundezucht zum Einsatz.

 

Wozu ein Zuchtwert ?

Man mag sich nun zunächst die Frage stellen, welchen Vorteil der Zuchtwert bietet, der zunächst als eine abstrakte Zahl erscheint, die sich stets um 100 bewegt, im Vergleich zur Bewertung des Merkmals am betreffenden Tier selbst. Um ein konkretes Beispiel zu bringen: Wieso ist ein Zuchtwert von 95 für HD aussagekräftiger als das Röntgenbild einer B-Hüfte?

HD ist bekanntlich eine Erkrankung, die zum Teil genetisch bedingt ist und zum Teil von Umwelteinflüssen abhängt. Man nennt einen solchen Erbgang multifaktoriell, der genetisch bedingte Anteil an der Ausprägung des Merkmals wird als Heritabilität (Erblichkeit) bezeichnet: Bei HD liegen die angebenden Werte zur Heritabilität um 40%, die Ausprägung des Merkmals hängt also zu 40% von den Genen und zu 60% von den Umwelteinflüssen ab.

Dies hat zur Folge, dass demselben Phänotyp, in unserem Beispiel demselben Dysplasie-Wert der Hüfte, nicht zwangsläufig derselbe Genotyp zugrundeliegt.  Vereinfacht ausgedrückt: Der Hund Pollux mit einer genetischen Basis für eine gute Hüfte wird bei ungünstigen Umweltbedingungen unter Umständen den gleichen HD-Wert im Röntgenbild aufweisen wie Waldi, der eine genetische Veranlagung für eine eher schlechte Hüfte hat, dem aber ideale Umweltverhältnisse geboten wurden. Natürlich ist Pollux bezüglich HD wesentlich interessanter für die Zucht als Waldi, obwohl sie vom Röntgenbild her keinen Unterschied aufweisen. Das Röntgenbild ist nur in der Lage, die Summe der genetischen und umweltbedingten Einflüsse wiederzugeben. Die Zuchtwertschätzung dagegen „filtert“ die Umwelteinflüsse aus der Bewertung des Hunde heraus: In unserem Beispiel hat also Pollux einen besseren Zuchtwert für HD als Waldi, die Zuchtwertschätzung ist also wesentlich geeigneter als das Röntgenbild, um die genetische Qualität der Hunde hinsichtlich des Merkmals HD zu beurteilen.


Wie funktioniert das?

Das Prinzip der Zuchtwertschätzung ist die Verdünnung des umweltbedingten Anteiles an der Ausprägung des Merkmals durch das Einbeziehen der Verwandtschaft des untersuchten Tieres in seine Berechnung: Deren Gene stimmen zu einem Teil mit denen des betreffenden Tieres überein, der natürlich umso höher ist, je höher der Verwandtschaftsgrad ist: Die Übereinstimmung mit dem Erbgut der Eltern liegt bei 50%, im Falle von Halbgeschwister bei 25% usw. Jeder dieser Verwandten liefert also zusätzliche Informationen zum Erbgut unseres Tieres, wogegen der umweltbedingte Einfluss auf das Merkmal einem Mittelwert zustrebt, da die in die Berechnung einbezogenen Tiere unter verschiedensten Bedingungen aufwachsen, die sich damit sozusagen gegenseitig „nullen“. Man könnte also den Zuchtwert als umweltunabhängige genetische Qualität des Hundes bezüglich des untersuchten Merkmals bezeichnen.

Seine Berechnung bezieht also den Phänotyp des Merkmals (in unserem Fall die HD-Werte) der Verwandtschaft des untersuchten Hundes unter Berücksichtigung des Verwandtschaftsgrades ein. Die Komplexität der Datenverarbeitung zur Kombination dieser Informationen im Rahmen der dafür verwendete Methode, die „Best Linear Unbiased Prediction“ (BLUP), macht den Einsatz von spezifischen Computerprogrammen zur Errechnung des Zuchtwertes unabdingbar: Es ist nicht möglich, in Eigenarbeit den Zuchtwert seiner Hunde zu errechnen.

Aus dem Gesagten lässt sich ableiten, dass ein Zuchtwert umso genauer ist je mehr Informationen über seine Verwandtschaft vorliegen…was bedeutet, dass der Zuchtwert variieren kann, wenn neue Informationen hinzukommen und dabei immer präziser wird. Insbesondere die steigende Zahl der Nachkommen im Rahmen der Verwendung als Zuchttier trägt zu der Verbesserung der Schätzung des realen Zuchtwertes ein.

 


 

Was bedeutet die Zahl des Zuchtwerts?

Der Zuchtwert beschreibt die genetische Qualität des untersuchten Hundes im Vergleich zum Durchschnittswert der gesamten Rassepopulation. Diese wird aber nicht in absoluten Zahlen ausgedrückt:

Zunächst wird die Merkmalsausprägung im Rassedurchschnitt als „100“ definiert. Haben die Hunde der Rasse im Durchschnitt einen HD-Wert von B, gilt also: HD B = 100. Ein Zuchtwert über 100 bedeutet eine Verstärkung des Merkmals und ein Zuchtwert unter 100 eine Abschwächung des Merkmals. Das bedeutet, dass bei einem erwünschten Merkmal ein hoher Zuchtwert positiv zu werten ist, bei einem unerwünschten Merkmal dagegen ein niedriger Zuchtwert. Ein Hund mit einem Zuchtwert von 90 für HD schwächt das Merkmal HD in der Nachkommenschaft ab, denn sein Zuchtwert liegt 10 Punkte unter dem Rassedurchschnitt, der mit 100 definiert ist.

Natürlich könnte man auch auf diese Relativierung des Zuchtwertes mit dem Bezugspunkt „100“ verzichten und stattdessen mit den absoluten Werten arbeiten. Jedoch erlaubt der relative Zuchtwert eine extrem einfache Berechnung, ob beim Nachwuchs mit einer Verbesserung der genetischen Qualität im Vergleich zum Rassedurchschnitt zu rechnen ist: Dazu genügt es, den Zuchtwert von Vater und Mutter zu addieren und durch zwei zu teilen.

Zuchtwert HD vom Vater  = 90

Zuchtwert HD der Mutter = 108

Erwarteter Zuchtwert HD der Welpen = (90 + 108)/2 = 99.

Diese Rechnung zeigt einen weiteren Vorteil der Zuchtwertschätzung auf: Zuchtwerte erlauben es, durch strategische Planung auch Tiere einzusetzen, die bei rein phänotypischer Merkmalsbeurteilung unter Umständen durch das Selektionsraster fallen würden: Der Zuchtwert der Mutter von 108 bezüglich der HD wird im vorliegenden Fall durch den hervorragenden Wert von 90 des Vaters ausgeglichen. Es ist also auf simple Weise möglich, Paarungen zu planen, die auf lange Sicht die genetische Qualität der Population verbessern.

Der letzte Satz bedarf einer weiteren Erklärung: Da die durchschnittliche genetische Qualität, also der Zuchtwert, der gesamten Population definitionsgemäß stets den Wert „100“ annimmt, ist der absolute Wert, dem diese „100“ entsprechen, permanenten Änderungen unterworfen: Liegt beispielsweise am Anfang der Selektion auf HD der durchschnittliche HD-Grad der Rasse bei HD C, gilt HD C = 100. Verbessert sich aufgrund der Selektion dieser durchschnittliche HD-Grad allmählich, erreicht er irgendwann den Wert B. Zu diesem Zeitpunkt entspricht dann der relative Zuchtwert 100 dem HD-Grad B. Natürlich ist diese Anpassung permanent und stufenlos und springt nicht schlagartig von C auf B: Jede Anpassung des Zuchtwertes eines Hundes beeinflusst die durchschnittliche genetische Qualität der Rasse, so dass diese bei planvoller Züchtung in die gewünschte Richtung gleitet.


 

Welche Zuchtwerte bei der Deutschen Dogge ?

Eine „klassische“ Anwendung der Zuchtwertschätzung ist die HD: Der relativ hohe Anteil der Umwelteinflüsse an der Entstehung der Erkrankung macht die Selektion auf der Basis des Phänotyps, also ausschließlich des Röntgenbildes des betreffenden Hundes selbst, zu einer ungenauen Methode, die bei einer Rasse, in der die Situation nicht hochdramatisch ist, nur noch wenig oder sogar gar keine Verbesserung mehr bringt. Es wäre also bei der Deutschen Dogge durchaus angebracht, die aktuelle Selektionsmethode durch eine Zuchtwertschätzung der HD zu ersetzen.

Der bedeutsamere Vorteil des Einsatzes von Zuchtwerten bei der Deutschen Dogge liegt jedoch in der Möglichkeit, eine effiziente Zuchtpolitik zur Verringerung der Häufigkeit der Pathologien zu betreiben, die zum großen Teil zur kurzen Lebenserwartung der Dogge führen: Die Erstellung eines Zuchtwertes ist vorstellbar für DCM, Osteosarkom und Magendrehung, da bei der Empfänglichkeit für diese Erkrankungen genetische Komponenten eine Rolle spielen. Bei der DCM kann die Erstellung des Zuchtwertes an die Ergebnisse der Herzultraschalluntersuchungen geknüpft werden, ähnlich wie der Zuchtwert der HD über die Ergebnisse der Röntgenuntersuchung berechnet werden kann. Bei Osteosarkomen und Magendrehungen würde die Berechnung über die Befallshäufigkeit in der Verwandtschaft und Nachzucht des betreffenden Hundes erfolgen. Eines ist jedoch in jedem Fall unabdingbar: Es müssen zur Erstellung von Zuchtwerten genügend Daten vorliegen. Die Erfahrung der Zuchtvereine, die mit Zuchtwertschätzungen arbeiten, hat gezeigt, dass dies ohne die Verpflichtung der Züchter, hier aktiv beizutragen, in aller Regel nicht zu erreichen ist.